Ihren Namen hat die Revolution von dem Symbol der portugiesischen Streitkräfte: die rote Nelke (Wissen.de, 25.4.15)
Am 25. April 1974 stürzten linksliberale Militärs, die ‚Bewegung der Streitkräfte‘ (MFA) die portugiesische Diktatur und beendeten die seit 1933 existierende und von Salazar gründet Schreckensherrschaft. Die Nelkenrevolution machte den Weg frei für soziale und wirtschaftliche Veränderungen im Land. Insbesondere kam es im Alentejo zu einer gravierenden Bodenreform, die aus ehemaligen abhängigen Bauern, die noch fast als Leibeigene lebten, freie Bauern. Das portugiesische Volk hatte fast 50 Jahre lang von der übrigen Welt nahezu abgeschnitten gelebt, was sich nicht nur im Bildungs- und Sozialsystem zeigte, sondern auch in der Wirtschaft insgesamt. So war die Landwirtschaft auf einem rückständigen Stand, Pflügen mit dem Ochsen- oder Eselsgespann die Regel. Auch die großen Hazienda-Besitzer wirtschafteten – besser ließen wirtschaften – mit einfachsten Mitteln. Die kleinbäuerlichen Wirtschaften produzierten für den Eigengebrauch, meist konnten die Menschen weder lesen noch schreiben. Ein vorsorgendes ‚intaktes‘ Gesundheitssystem war unbekannt.
„Die MFA wollte nach dem Sturz des faschistischen Regimes die Politik zunächst nach sozialistischen Grundzügen gestalten. Die einschneidendsten Veränderungen bestanden in der Verstaatlichung größerer Wirtschaftsunternehmen und der Enteignung des Großgrundbesitzes.“ (Wissen.de, 25.4.15)
„Es war genau 0:30 Uhr als im Radio Renascença das Lied Grândola, Vila Morena von José Afonso ertönte. Das Lied stand für das Ende der konservativ-autoritären Diktatur unter Salazar und Caetano. Dennoch war unklar in welche Richtung sich das Land entwickeln sollte. Die erste Regierung, bestehend aus der linksgerichteten MFA und der kommunistischen Partei PCP, verabschiedete eine Verfaaung mit sozialistischen Grundprinzip. Dazu gehörte die Verstaatlichung vieler Unternehmen. Diese sozialistische Regierung hielt nicht lang. Das Land war sofort mit einer gravierenden Wirtschaftskrise konfrontiert, die keinen Spielraum für eine sozialistische Wirtschaftspolitik ließ. Zum einen verließen die Reichen, die in der Diktatur profitiert hatten, das Land, da sie sich ihr Vermögen nicht enteignen lassen wollten. Zudem hatten die langen Kolonialkriege (Angola, Mosambik) Portugal „ausgeblutet“. Portugal brauchte dringend Kredite, die die GeldgeberInnen einer Regierung mit kommunistischer Leitung nicht gewähren wollten.
Die Bevölkerung hatte Angst vor der Instabilität und der Wiederkehr einer autoritären Diktatur. Somit kam es bei den Parlamentswahlen 1976 zu Mehrheiten der Sozialdemokratischen Partei PS und den konservativen Parteien PSD und CDS-PP. Der erste frei gewählte Ministerpräsident Mario Soares wollte vor allem Stabilität für Portugal, das er der NATO anschloss. Frieden und Stabilität hatten erste Priorität.
Viele hofften darauf, dass es möglich sei könnte einen demokratischen Sozialismus aufzubauen und hofften auf die Unterstützung, zumindest aber auf die Duldung durch die USA, damit Portugal nicht unter den Einfluss der Sowjetunion geraten.
Kredite aber wollte man Portugal nur gewähren, wenn es eine neoliberale Wirtschaftspolitik verfolgen würde. Portugal selbst hoffte wohl auf eine gewisse Stabilisierung, um später eine sozialistische Richtung einschlagen zu können.
Die Entwicklung war eine Andere. Die kapitalistischen Wirtschaftsmaßnahmen waren besonders in den 80er und 90er Jahren erfolgreich, es kam zu hohem Wirtschaftswachstum und zu steigendem Wohlstand in der Bevölkerung. Die zu der Zeit agierenden Regierungen (mit ständigem Wechsel zwischen PS, PSD und CDS-PP) entschieden aus Portugal ein Billiglohnland zu machen, das stark vom Export abhängig ist und somit attraktiv für ausländische Investoren. Zudem wurden große Teile der Unternehmen wieder privatisiert. Neben der neoliberalen Wirtschaftspolitik kam es nebenbei zur Annullierung sozialistischer Gesellschaftsvorstellungen, die in der Verfassung verankert waren.
Da der wachsende Wohlstand und die politische Stabilität keinen Grund zum Protest gab, konnte dieser Kurs problemlos weiter verfolgt werden.
Diese wirtschaftspolitische Ausrichtung hat sich in den letzten Jahren stark gerächt. Die EU-Osterweiterung und die Abwanderung ausländischer Investoren in noch „billigere“ Staaten haben Portugal in eine tiefe Wirtschaftskrise gestützt, da außerdem die Einführung des Euros die eigene Währung stark geschwächt hat.
Gebeutelt von einer hohen Arbeitslosigkeit und den härtesten Sparmaßnahmen seit 45 Jahren herrscht Unmut. Proteste richten sich hauptsächlich gegen die Austeritätspolitik der Troika. Beorderst betroffen ist die junge Bevölkerung. Das bei uns eher unbekannte Netzwerk „Que Se Lixe a Troika! Queremos as Nossas Vidas!“ schafft es Hunderttausende auf die Straße zu bewegen.
Obwohl ein Hauch „Nelkenrevolution“ zu spüren ist, fehlt es an starken Netzwerken, die längerfristig sich gegen den Kampf der neoliberalen Politik organisieren. Daher haben die Demonstrationen bisher keinen starken politischen Charakter und dienen eher dazu um den Frust abzulassen. Auch das Wahlverhalten der Portugiesen führt dazu, das es keine große linke Opposition existiert. Bei den letzten Parlamentswahlen kamen die Kommunisten und der Linksblock gemeinsam auf nur ca. 13%.
Weiterhin ist es schwer absehbar, ob neue soziale Bewegungen entstehen und ob sie nachhaltig sind.
Dennoch ist es allgemein schwer vorhersehbar ob neue soziale Bewegungen entstehen und wie nachhaltig sie sind. Die Unzufriedenheit gegenüber den andauernden Sparmaßnahmen ist zum größten Teil in der Bevölkerung vorhanden. Somit kann jede weitere Reform zu Ungunsten der Bevölkerung der Tropfen sein, der das Fass zum Überlaufen bringt.“ (André Arauro Soares, 40 Jahre Nelkenrevolution – ein Rückblick, veröffentlich im FREITAG, 25.4.2014, stärker verändert)
Heute ist von revolutionärer Aufbruchstimmung nichts mehr oder fast nichts mehr zu spüren. Die Krise Portugals hat den bis dahin möglichen Aufstieg und die Aufstiegschancen der kaum entstandenen Mittelschicht zunichte gemacht. Die Jugendarbeitslosigkeit ist hoch (34,5% im November 2014), die Perspektiven sind auch für gut Ausgebildete gering. Viele der Kinder, die studieren konnten, sind gezwungen ihr Land zu verlassen, vorzugsweise in Richtung Brasilien. Viele aber können dies nicht, denn sie tragen die Verantwortung für ihre Eltern, manches Mal auch für die Großeltern, deren Renten zum Leben häufig nicht ausreichen. Und wenn sie gar arbeitslos gewesen oder geworden sind, hilft hier keine staatliche Sicherung.
Dennoch ist eines der Prinzipien möglichst lange den erreichten sozialen Status nach außen aufrecht zu erhalten. Ein Auto muss sein (auf dem Land tatsächlich unerlässlich), die Kinder aus dem Ei gepellt mit den neuesten Sachen, die Studiengebühren oft als Kredit.
Und eine sozialistische Perspektive gibt es derzeit auch hier nicht. Wahlen stehen vor der Tür, die Portugiesen scheinen ein duldsames Volk zu sein. Böse Zungen behaupten, die Jungen würden unter 25. Abril die große Brücke über den Tejo in Lissabon kennen und sonst nichts.
Auch: Ismail Küpeli 2013: Nelkenrevolution reloaded? Krise und soziale Kämpfe in Portugal, Edition assemblage, Münster.